In diesem Artikel werde ich aufzeigen was Taiji mit Holzspalten zu tun hat und wie Jin, geführte Kraft/Energie, dabei eine wichtige Rolle spielt.
Vorab möchte ich klarstellen, dass der Text aus meiner persönlichen Erfahrung entstanden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass andere Taiji Praktizierende, vorallem aus anderen Stilen, Aspekte sicherlich anders sehen. Trotzdem hoffe ich, dass er dir einige Einblicke in das Chen Taiji gibt und vielleicht hilft gewisse Fragen zu beantworten.
Oft wird im Taiji von Qi (氣) gesprochen, dies ist eher unbeständig und schwieriger zu Beschreiben, weil es verschiedene Arten davon gibt und noch mehr unterschiedliche Interpretationen. Im Unterricht ist bei uns meistens von Jin (勁) die Rede, was auf Deutsch "Mit Intention Yi (意) geführte Kraft/Energie" bedeutet und ein sehr Taiji spezifischer Begriff ist. Da Energie oft was mystisches darstellt und Unklarheiten mit sich bringt, werde ich hier weiter von Kräften schreiben. Es ist damit nicht rohe Muskelkraft Li (力) gemeint. Die ist auch wichtig, wird jedoch oft als lokale Kraft, wie zum Beispiel aus den Oberarmen, verstanden. Jin ist das Konzept der Führung der Kraft durch den ganzen Körper, die einen Anfang und Ende hat.
Jin entwickelt und verfeinert sich aus einer optimalen Körperstruktur und einer zielgerichteten Bewegungsmechanik, welche durch das kontinuierliche Taiji Training gefördert wird. Es ist keine magische und abstrakte Sache, welche nur Meistern nach jahrelanger Meditation und Training vorbehalten ist, sondern eine optimierte Verkettung und ein klares Zusammenspiel der einzelnen Körperteile, Muskeln und Sehnen. Wie erfahre ich nun Jin? Um das zu illustrieren eignet sich ein kleiner Exkurs ins Holzspalten ganz gut.
Jin beim Holzspalten
Wenn man das erste Mal Holz spaltet ist noch viel rohe Muskelkraft im Einsatz. Weil die Bewegung in den Schultern oder im oberen Bereich des Rücken anfängt und mit viel permanenter Muskelanspannung ausgeführt wird, sind Muskelkater oder sogar Schmerzen oft ein Resultat davon.
Mit der Zeit wird das Spalten des Holzes immer einfacher und es ist mit relativ wenig Kraft möglich, dicke Broken zu trennen. Dies aber nur wenn der ganze Körper die Bewegung verkettet ausführt. Nach dem Hochziehen des Beils wird eine kleine Wellenbewegung durch den Körper ausgeführt, welche in den Füssen anfängt und fertig ist, wenn das Beil auf das Holz trifft. Dies geschieht oft unbewusst, veranschaulicht jedoch klar und deutlich wie ein Kraftpfad entsteht und die Energie durch den Körper geführt wird.
Kinetische Verlinkung
Wissenschaftlich kann Jin als kinetische Verlinkung (oder auch kinetische Verkettung) beschrieben werden und ist eine weitere Veranschaulichung der geführten Kraft. Das Konzept wird im Boxen gebraucht um mehr Power in den Schlag zu bringen. Dabei ist dieses Video zu empfehlen, welches die Idee dahinter sehr gut darstellt.
Es gibt unzählige weiter Beispiele wo kinetische Verlinkung wichtig ist. Im Snowboarden sehen Sprünge mit Rotationen viel eleganter aus, wenn sie beim Absprung aus dem Unterkörper entstehen. Hat die Drehung in der Luft ihren Anfang in den Schultern, dann wirkt die Bewegung oft gerissen und unsauber. Oder Im Fussball wenn Messi mit dem Ball jongliert, der Körper sieht ganz entspannt aus, ist aber beim Kontakt mit dem Ball optimal ausgerichtet.
Das zerstreute Jin
Jetzt wieder zurück zum Taiji. Wenn die Form verinnerlicht wurde und nicht mehr all zu viel über Gewichtswechsel, der Reihenfolge der Element oder Postionen der Arme und Hände nachgedacht werden muss, dann kann das Jin entwickelt werden. Mit Positionskorrekturen wird der Körper immer wieder optimal ausgerichtet im Training. Es ist wichtig, dass er wieder weiss, was eine optimale Struktur ist aus der Zeit bevor Fehlhaltungen, Unfälle und Stress einen negativen Einfluss darauf hatten. Diesen Zustand bezeichne ich als zerstreutes Jin. Es kann ein Kraftpfad statisch aufgebaut werden, das ganze in die Bewegung bringen ist jedoch noch sehr schwierig.
Das grosse Jin
Mit Hilfe von Anwendungen der Formelemente wird eine Idee der Bewegung veranschaulicht. Es ist einfacher zu verstehen wohin die Kraft geführt werden soll in direktem Kontakt mit einer anderen Person. Bei mir im Unterricht machen wir die Anwendungen immer in drei verschiedenen Stufen. Die erste mit sehr wenig Gegenkraft, damit die Anwendung aus dem Formelement abgeleitet werden kann. In der zweiten mit ein bisschen mehr Gegendruck, damit der Kraftpfad entwickelt werden kann und in der dritten um zu testen wie Verbunden alles ist. Jedoch immer mit einem kooperativen und nicht kompetitiven Mindset.
Wird die Form alleine ausgeführt, dann ist es möglich den Kraftpfad selber aufzubauen, so wie wenn ein Partner da ist. Die verbundene Körperstruktur und die Führung der Kraft kann klar hergestellt werden, jedoch mit noch nicht all zuviel Power dahinter. Das Ändern des Jin bei Bewegungswechseln ist noch sehr grob und unbeständig.
Das kleine Jin
Mit fortlaufendem Training entwickelt sich das Jin immer mehr, Bewegungen werden immer kleiner, Gewichtswechsel sind äusserlich nicht mehr so klar und es entsteht eine ganzheitliches Bewegungsmuster. Das Ausrichten des Körpers in die optimale Struktur erfolgt weitestgehend automatisch und ist vermehrt auch im Alltag da, nicht mehr nur im Taiji Training. Die Bewegungsmechanik verfeinert sich immer weiter und es kann klar entschieden werden ob die Kraft in den Handballen, Ellbogen oder wo auch immer hingeführt werden soll.
Der Kraftpfad kann nun auch in neuen Bewegungen mit Leichtigkeit aufgebaut werden ohne, dass sich zum Beispiel die Schultern gleich wieder verschliessen. Das Jin zu wechseln ist nun immer einfacher. Im Push Hands wird der Bereich, worin man sich bewegen und wenden kann ohne aus der Struktur zu fallen, nicht mehr verlassen. Das Konzept des sogenannten Taiji Körpers ist nun verinnerlicht.
Das versteckte Jin
Wie schon eingangs erwähnt, braucht es um das Jin zu führen die Intention Yi. Dabei sind weniger äussere Bewegungen massgebend, sondern deren Ziele. Um dies zu veranschaulichen, nehmen wir das Formelement "Träge den Mantel aufhängen". Da kann die Kraft in den Handballen geführt werden, wenn ein Drücken nach unten das Ziel ist oder in die äussere Handkante, wenn ein Pressen nach aussen gemacht werden soll. Für eine aussenstehende Person sieht das Formelement beide Male gleich aus, nur der Kraftpfad und die geführte Energie ist leicht anders. Das Wechseln des Jin ist nun sehr einfach und kann bei schnellen Positionsänderungen in der Partnerarbeit aufrecht erhalten werden. An diesem Beispiel versteht man nun gut warum Taiji als eine innere Kampfkunst bezeichnet wird.
Von Bedeutung ist dabei, dass die volle Aufmerksamkeit in der Bewegung ist. Hier kommt eine weitere Komponente hinzu, das Herz. Im Taiji wird das durch die Harmonie von Herz und Intention beschrieben und rückt das "Im hier und jetzt sein" sehr stark in den Vordergrund. Ich will nicht weiter auf das Thema der drei inneren Harmonien eingehen, wichtig ist zu verstehen, dass der mentale und geistige Aspekt im Taiji eine grosse Rolle spielt um mit Jin zu arbeiten.
Schlusswort
Wie du siehst, ist dieses Them sehr weitreichend und dabei habe ich andere wichtige Themen wie die Seidenspulenkraft, die 8 Grundkräfte (Peng, Lü, Ji, An, Cai, Lie, Zhou, Kao) oder die explosive Kraft Fajin gar nicht behandelt. Dieser Artikel soll dazu dienen, um das Verständnis des Kapitels Energie und/oder Kräfte im Taiji besser zu verstehen und die körperlichen, geistigen und gesundheitlichen Vorteile zu erkennen.
An dieser Stelle möchte ich auch Nabil einen grossen Dank aussprechen. Wie er das ganze von Chen Yu aufgeschlüsselt und ins westlichen Gedankengut übertragen hat ist sehr beeindruckend. Vieles ist so einfach aber wird einem erst klar, wenn es verständlich übermittelt wird. Dabei kann ich sehr sein neues Buch empfehlen "Familienüberliefertes Chen Taijiquan" um tiefer in die ganze Thematik einzutauchen, oder besuche einer meiner Einführungskurse, wenn du es praktisch Erfahren willst.